ESSAY AUS STEREO 3/2003
CD ESSAY
V l
ll
■ Ç fF
m U :
ff
T j g b ÿ / -
t e i ü
L F ;
i *
/ /
nem ästhetischen Konstrukt zu formen.
Und wenn alles gut läuft, ein geniales Or-
chester das Niedergeschriebene in Musik
zurückübersetzt und die Aufnahme klappt,
dann erlebt im Land hinter meinen Boxen
ein Faun einen von Magie und Idylle ver-
zauberten Nachmittag. Hat man Glück,
lädt er einen dazu ein, und man weiß hin-
terher nicht mehr beziehungsweise nur all-
zu gut, wo man gewesen ist.
Der Funke springt nicht immer über, aber
doch immer wieder. Dann sträuben sich die
Nackenhaare,
wenn
der
eifersüchtige
Othello seine Desdemona erwürgt, trauert
man mit Alexandra um ihren verlorenen
„Zigeunerjungen“ oder duckt sich stau-
nend hinter dem kleinen Paul Simon auf
der Bühne im Central Park, als der allein
wie einst Daniel in der Löwengrube mit sei-
ner Gitarre vor zehntausenden von Zuhö-
rern leise sein „America“ anstimmt. Und
die Masse brüllt wie eine hungrige Bestie.
All dies und natürlich vieles mehr passiert
in meinem Land, das mich so sehr braucht,
wie ich es brauche. Und das Schöne ist: Je-
der hat Zutritt zu diesem Land. Na klar, mit
einer richtig gut klingenden HiFi-Anlage
erscheinen viele seiner Plätze echter, au-
thentischer. Hinter den Böxchen der Mini-
Anlage aus dem Kaufhaus wirkt vieles fahl
und unkenntlich; nur wie ein durch Milch-
glas betrachtetes schwaches Abbild seiner
selbst. Aber erleben wir deshalb wirklich
immer weniger? Hockten wir nicht alle ge-
bannt vor unserem ersten Radiorecorder,
um das musikalische Land zu erkunden?
Wir hörten unsere Musik in der Tat
schlechter als heute. Aber haben wir sie
deshalb wirklich weniger verstanden?
Ich ging noch nicht zur Schule, da
war mir das unsichtbare Land
schon bekannt. Sonntags, die
Eltern schliefen noch, schlich
ich
mich
regelmäßig
ins
Wohnzimmer,
wo
das
„Wega“-Radio
mit
seinem
krächzenden Plattenspieler auf
der Anrichte stand. Eigenarti-
gerweise hörte ich zu dieser
frühen Stunde bevorzugt Mo-
zarts „Kleine Nachtmusik“ - des-
sen ästhetische Perfektion mir
Ungebildetem wohl einen ähnlichen
Eindruck gemacht haben muss wie der
schwarze Obelisk in Kubricks „2001“ den
Urmenschen
aber auch Auszüge aus
„My Fair Lady“ oder eine Platte mit ei-
nem Singspiel um den „Rattenfänger
von Hameln“. Ich erlebte wieder und
wieder, wie Henry Higgins die arme
Eliza Doolittle mit seinen Sprechü-
bungen malträtierte und beide einander in
ihrer Hassliebe umkreisten, was ich damals
noch nicht begreifen konnte, in mir jedoch
schon eine frühe Ahnung davon hinterließ,
wie es auf der Welt zugeht.
Lief traf mich stets der Schmerz der El-
tern, die ihre Kinder verloren. Zwar hatten
sie den Rattenfänger aus niederem Geiz -
damals noch nicht „geil“ - um seinen ge-
rechten Lohn betrogen. Aber war die Strafe
30 STEREO 3/2003
die Kinder sangen glücklich vom fremden
Land, in das sie seiner Musik (Aha!) gefolgt
waren. Der Refrain lautete: „Deine Flöte,
lieber Spielmann, macht uns glücklich und
froh.“ Und da war plötzlich alles halb so
schlimm. Ich wäre auch mitgelaufen und
war ja, ohne es recht zu wissen, längst un-
terwegs.
Tief versank ich im zauberischen, um so-
viel spannenderen Leben des unsichtbaren
Landes, und wenn meine Mutter zum
Frühstück rief, ahnte sie nicht, wie weit ich
an diesem Tag schon gereist war. Altersgrau
kam ich zurück, und auch die Welt diesseits
des Lautsprechers hatte sich verändert. Der
Apparat, der mir damals diese schaurig-
schönen Tripps ermöglichte, nähme sich
neben meinem heutigen HiFi-Set aus wie
ein Ford Model T neben einem Ferrari. Und
doch tat er genau das, was er sollte.
Ob ihm das heute noch gelänge? Vielleicht
war es gerade die Unvoreingenommenheit
vor dem hifidelen Sündenfall, die mir den
unverstellten „Blick“ auf das unsichtbare
Land, das mir bis heute als Verheißung des
Paradieses gilt, erlaubte. Hören HiFi-Fans
anders? Kennen sic eine Abkürzung ins
Reich der Musik? Das wohl nicht. Doch ihre
Verfallenheit den schönen, packenden, dra-
matischen Klängen gegenüber macht sie zu
einer besonderen Sorte seiner Grenzgänger.
Aber das ist eine Geschichte, die wir uns
später ausspinnen.
Cornelius Klingborn
30
30 JAHRE STEREO